01. Juni 2020

Blog Managing Change

Autorin: Dr. Fouzieh Melanie Alamir

Abbildung: Foto Glaskuppeldach – Blog Managing Change, Artikel: Was haben wir von der "VUCA"-Debatte gelernt? – Face To Face Solutions
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Foto: Melanie Alamir

Was haben wir von der „VUCA“- Debatte gelernt?

Kaum ein Trainings- oder Beratungsangebot kommt heute ohne Verweis auf die Herausforderungen für Unternehmen und Führungskräfte in Politik und Wirtschaft durch Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Vieldeutigkeit, kurz das sogenannte „VUCA“-Umfeld, aus.

„VUCA“ steht auf Englisch für volatility (Volatilität/Unbeständigkeit), uncertainty (Ungewissheit/Unsicherheit), complexity (Komplexität), ambiguity (Ambiguität/Vieldeutigkeit) und beansprucht nicht nur globale politische und wirtschaftliche Trends abzubilden, sondern schreibt diesen auch eine nie dagewesene neue Qualität zu.

Dabei bleibt es individuellen Auslegungen überlassen, welche Trends genau mit „VUCA“ beschrieben sind und welchem Zeitraum sie genau zuzuordnen sind. Unausgesprochen ist nach allgemeinem Verständnis jedoch die Zeit nach der Jahrtausendwende aus der Perspektive westlicher Industrieländer gemeint.

Der Begriff „VUCA“ ist in der einschlägigen Diskussion zu einem Paradigma aufgestiegen, das verspricht, die Problemfelder und Anforderungen abzustecken, denen sich Führung und Strategie im privaten und öffentlichen Sektor heute stellen müssen, und zugleich agile Lösungsansätze anzubieten, die sich direkt auf „VUCA“-Bedingungen beziehen oder indirekt davon ableiten lassen.

Was haben wir von der Debatte um „VUCA“ gelernt? Es ist an der Zeit, eine erste Bilanz zu ziehen.

Was haben wir von der Debatte um „VUCA“-Bedingungen gelernt?

Die Mehrzahl der Angebote zur Unternehmensberatung oder Fortbildung von Führungskräften verweisen heute auf „VUCA“-Bedingungen; einige beanspruchen direkt davon abgeleitete Lösungen anzubieten. Welcher Mehrwert liegt in der Diskussion und den Ansätzen, die sich direkt oder indirekt auf „VUCA“-Bedingungen beziehen?1

Die meisten Angebote umfassen Tools, Modelle, Ansätze und Orientierungen, die Unternehmen und Führungskräften dabei helfen sollen, sich erfolgreich in einem „VUCA“-Umfeld zu behaupten. Dabei adressieren sie insgesamt ein sehr breites Spektrum von Management- und Führungsaspekten. Quer durch alle Dimensionen (Führung, Strategie, Organisationskultur, Personal, Struktur, Prozesse) wird Agilität als Schlüssel zum Erfolg unter „VUCA“-Bedingungen gesehen. Die meisten Angebote fokussieren dabei auf einzelne Dimensionen oder methodische Ansätze, wobei Agilität meist als übergeordneter Referenzpunkt dient. Angefangen von persönlichen Eigenschaften und Führungsqualitäten (Authentizität, Mindfulness/Achtsamkeit) über kognitive Fähigkeiten (systemisches Denken) werden hier soziale Kompetenzen (interkulturelle Kompetenz) ebenso wie Kapazitäten zur besseren Entscheidungsfindung (z.B. Cynefin), Innovations- und Anpassungsprozesse in Unternehmen (z.B. Design Thinking, Scrum) bis hin zur Unternehmenskultur oder der Umgang mit Vielfalt (Diversity) in den Blick genommen. Nur die größeren Beratungsfirmen bieten Lösungen an, die alle Dimensionen von Agilität adressieren.

Systemisches Denken breit verankert

Nicht nur der Leitbegriff der Agilität, sondern auch Entscheidungsmodelle wie Cynefin oder Ansätze zur Steuerung von Innovations- und Anpassungsprozessen wie Design Thinking, Scrum oder Kanban machen Anleihen bei systemtheoretischen Kategorien.

Systemtheorien fanden ab den 1940ern bis in die 1970er Jahre große Resonanz in den verschiedensten Disziplinen der Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften. Auch die Organisations- und Managementforschung begann früh Organisationen als soziale Systeme zu konzipieren und damit erstmals systematisch und umfassend die Bedingungen für Effektivität und Leistungsfähigkeit von Organisationen oder Unternehmen zu untersuchen. In der Praxis fanden systemische Modelle erst in den 1980er Jahren Verbreitung in der Psychotherapie, der Pädagogik oder in der Organisationsberatung. In der Managementforschung wurden auf systemischem Denken basierende Konzepte entwickelt, die Selbstorganisation und Kooperation als Methode zum Umgang mit Komplexität betonten.

Der Mehrwert systemtheoretisch inspirierter Ansätze liegt darin, dass sie einen besonders effektiven Zugang zum Verständnis von Problemen in komplexen Umfeldern anbieten. Das macht sie auch attraktiv für die Bewältigung von Herausforderungen in „VUCA“-Umfeldern. In diesem Lichte gesehen bildet die Diskussion um „VUCA“-Bedingungen eine Brücke zum früheren Diskurs, bündelt neuere Ansätze unter der Leitidee Agilität und verankert damit systemisches Denken noch breiter im Beratungsdiskurs.

Methodenspektrum erweitert

Ein weiterer verdienstvoller Effekt der Diskussion um „VUCA“-Bedingungen lag darin, die vielfach aus der IT-Produktentwicklung der 1990er Jahre entlehnten Arbeitsweisen von Technologie-Start-Ups in den Mainstream hineinzutragen und damit einem breiteren Kreis potenzieller Nutzer*innen zugänglich zu machen. Während Agilität aus dem militärischen Kontext entstammt, in der IT-Branche rezipiert wurde und von dort aus Verbreitung fand, haben sowohl Design Thinking als auch Scrum ihren Ursprung als Methoden in der IT-Produktentwicklung.  Beide Ansätze sind, streng befolgt, besonders gut zur schnellen Entwicklung von Lösungen und Produkten in Branchen mit sehr schnellen Innovationszyklen geeignet. In der breiten Praxis kommen heute vielfach nur Elemente ihrer Vorgehensweise zur Problemlösung, zur Steuerung von Veränderungsprozessen oder schlicht zur Organisation der Zusammenarbeit zum Einsatz. Design Thinking und Scrum stehen heute in der vereinfachten Form oftmals für Agilität im Sinne von Schnelligkeit und Effektivität, auch dort wo „VUCA“-Bedingungen weniger ausgeprägt anzutreffen sind.  Da sie, ebenso wie Kanban, gut mit anderen Ansätzen, Tools und Methoden kombiniert werden können, haben sie die Methodenpalette für Organisationen, Unternehmen und Berater*innen erheblich bereichert.

Bewusstsein für spätmoderne Herausforderungen vertieft

Die Auseinandersetzung mit „VUCA“-Bedingungen hat zudem für spätmoderne Herausforderungen sensibilisiert, auf die Agilität keine direkte Antwort bietet, die aber für Organisationen und Unternehmen nicht minder relevant sind. Das gilt für die spätmoderne Suche nach Selbstvergewisserung und Sinn, die auch vor Politik und Wirtschaft nicht Halt macht, ebenso wie für die Bedeutung von interkultureller Kompetenz oder Diversity.

Individualisierung und die sichtbare Erosion identitätsstiftender Institutionen (Familie, nachbarschaftliche Gemeinde, Kirche, etc.) und der damit verknüpften Werteorientierungen in westlichen Nachkriegsgesellschaften ab den 1970er Jahren haben vielfach Gefühle der Verunsicherung und Orientierungslosigkeit erzeugt, die von dem Gefühl der Unüberschaubarkeit infolge von Internet, Globalisierung, geopolitischen Umbrüchen etc. heute zusätzlich überlagert werden. Trainings- und Beratungsangebote, die Authentizität, Achtsamkeit, kritisches Denken, Empathie, Ambiguitätstoleranz, Selbstführung, Kreativität. u.ä. fördern, greifen Fähigkeiten auf, die für selbstbestimmte Lebensgestaltung und erfolgreiche Problembewältigung in der modernen Welt generell von Vorteil und insofern auch hilfreich bei der Bewältigung von „VUCA“-Herausforderungen sind.

Interkulturelle Kompetenzen gehören in einer Welt wachsender Mobilität und Begegnungsdichte zwischen Gesellschaften und Kulturen zu den künftigen Kernfähigkeiten im 21. Jahrhundert, nicht nur für Fach- und Führungskräfte in Wirtschaft und Politik. Die Diskussion um interkulturelles Management bildet historisch einen eigenständigen Diskussionsstrang. Mit Blick auf „VUCA“-Bedingungen konnte die Bedeutung interkultureller Kompetenzen als Faktor verbesserter Interoperabilität in und zwischen Unternehmen aber besser in der Breite etabliert werden.

Interkulturelle Öffnung ist oft mit dem Management von Vielfalt verknüpft. Der betriebswirtschaftliche Nutzen von Diversity ist heute anerkannt und daher seit einigen Jahren in den Kanon von Trainings- und Beratungsthemen für die Wirtschaft mit eingeflossen. Hier gilt ähnlich wie für interkulturelle Kompetenzen, dass die Auseinandersetzung mit „VUCA“-Bedingungen für Diversity zusätzlich sensibilisiert hat.

Unternehmenskultur als Faktor der Innovationsfähigkeit in den Blick genommen

Die wachsende Aufmerksamkeit für Unternehmenskultur in Organisationen und Unternehmen geht auf die 1980er Jahre im Zuge zunehmender internationaler wirtschaftlicher Verflechtungen zurück. Das Aufkommen dieser Perspektive war zunächst nicht primär Reflex auf ein komplexer werdendes Umfeld. Es erklärt sich eher aus der Hinwendung in vielen wissenschaftlichen Disziplinen zu der Annahme, dass unsere Vorstellung und Deutung von Realität vor allem ein Konstrukt ist und daher stark geprägt von Werten, Kultur und Gesellschaft (Konstruktivismus).  Da Unternehmenskultur aber in hohem Maße Innovationsfähigkeit und die Fähigkeit zum Umgang mit Veränderungen und Störungen beeinflusst, ist sie in den 1990er Jahren auch vermehrt ins Blickfeld der Unternehmensberatung gerückt und damit sukzessive auch als Ansatzpunkt zur Verbesserung der Agilität unter „VUCA“-Bedingungen.

„VUCA“ und Agilität als Katalysator

Die ideengeschichtlichen Vorläufer vieler derzeit gängiger Konzepte und Ansätze aus Training und Beratung gehen, wie gezeigt, auf etablierte Theorien, Konzepte oder gesellschaftliche Bewegungen und Trends zurück, die aus Jahrzehnten vor der Zeit stammen, für die der Begriff „VUCA“ steht. Diesen Vorläufern ist gemeinsam, dass sie auf sehr unterschiedlichen Feldern die wachsende ökonomische und gesellschaftliche Komplexität westlicher Industrieländer nach dem Zweiten Weltkrieg spiegeln. Daher konnte die Diskussion um „VUCA“-Bedingungen und Agilität bruchlos an diese Ideen anschließen.

Dabei fungierte die „VUCA“-Debatte faktisch als Katalysator, welcher Ansätze und Methoden, die bis dato eher in Nischen gediehen, in den breiteren Mainstream der Unternehmensberatung und Führungskräfteentwicklung hineingetragen hat. Purist*innen mögen dabei die teilweise Verwässerung der Ursprungsideen beklagen. Aber der Mehrwert einer Bereicherung des Mainstreams um Ansätze, die Aspekte und Fähigkeiten in Management und Führung adressieren, die seitdem zum Standard gehören, sollte darüber hinwegtrösten und ist eindeutig zu begrüßen.

Die Katalysator-Funktion der „VUCA“-Debatte gilt unabhängig davon, ob Vertreter*innen einzelner Ansätze sich explizit oder nur implizit oder auch gar nicht in ihrem Kontext verorten. Die Debatte um „VUCA“-Bedingungen hat die Fragmentierung der Landschaft an Beratungsansätzen und -konzepten keineswegs aufgehoben. Aber sie hat einen übergeordneten Referenzrahmen geschaffen, in den sich viele unterschiedliche Ansätze besser einordnen lassen, selbst wenn dieser Rahmen, wie eingangs diskutiert, konzeptionell relativ schwach ist.

Allerdings muss das Konstrukt „VUCA“ auch kritisch betrachtet werden. Es beinhaltet unausgesprochene Annahmen, die bei näherem Hinsehen fraglich sind oder differenziert werden müssen, wie z.B. seine Gültigkeit über nationale, soziale oder situative Unterschiede hinweg. Auch weist das Konzept der Agilität als Antwort auf Herausforderungen für Unternehmen und Organisationen durchaus blinde Flecken auf, die größerer Aufmerksamkeit bedürfen. Mit diesen kritischen Fragen befasst sich mein Beitrag, der im Herbst in der Zeitschrift für Organisationsentwicklung erscheinen wird und sich dem Thema „VUCA“ als Paradigma auf dem Prüfstand befasst.

Ausgewählte Literaturhinweise

Agile Organizations. An Approach for a successful journey towards more agility in daily business. Capgemini Consulting, 2017, https://www.capgemini.com/consulting-de/wp-content/uploads/sites/32/2017/08/cc_agile_organization_pov_20170508.pdf

Anderson, David J.; Carmichael, Andy (2016): Die Essenz von Kanban kompakt, dpunkt, Heidelberg

Brown, Tim (2008): Design Thinking, Harvard Business Review, June 2008, S. 85.-92, https://new-ideo-com.s3.amazonaws.com/assets/files/pdfs/IDEO_HBR_DT_08.pdf

Dove, Rick; LaBarge, Ralph (2018): Fundamentals of Agile Systems Engineering – Part 1,  International Council on Systems Engineering, IS2014, Las Vegas, NV, 30Jun-3Jul. , Revised 20-May-2018, http://www.parshift.com/s/140630IS14-AgileSystemsEngineering-Part1&2.pdf

Malik, Fredmund (1993): Systemisches Management, Evolution, Selbstorganisation. Grundprobleme, Funktionsmechanismen und Lösungsansätze für komplexe Systeme. Bern, Stuttgart, Wien: Haupt Verlag

Schwaber, Ken; Sutherland, Jeff (2017): Der SCRUM Guide. Deutsche Ausgabe, November 2017, https://www.scrumguides.org/docs/scrumguide/v2017/2017-Scrum-Guide-German.pdf

Tompkins, Jonathan R. (2005): Organization Theory and Public Management. Belmont: Wadsworth

1Die Auswahl an Ansätzen, die hier Erwähnung finden, erhebt weder Anspruch auf Vollständigkeit noch auf eine Aussage zur Relevanz mit Blick auf das Thema, sondern dient demonstrativen Zwecken.

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User Kommentare

10. September 2020

Ute

Liebe Dr. Fouzieh, liebe Melanie,

danke für diese Zusammenfassung. Ich freue mich auf Deine kritische Auseinandersetzung in der OE. 

Die berechtigte Frage, inwiefern sich ein solches Modell tatsächlich allgemeingültig anwenden lässt, sollte sich auch beziehen auf die unterschiedlichen Kulturen von Organisationen in der Gesellschaft - z.B. auf die Organisationskultur (von Teilen) der öffentlichen Verwaltung. Hier das das Denkmodell des VUCA von hohem Neuigkeitswert und geeignet, die Notwendigkeit von Veränderungen in der Verwaltung zu illustrieren und - das ist der Anknüpfungspunkt - ein systemisches Denken zu fördern (weg von: wir sind nicht zuständig). 

Liebe Grüße aus Dresden

Ute

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