16. September 2020

Blog Kamingespräche Politik

Autorin: Dr. Fouzieh Melanie Alamir

Abbildung: Grafiktext für Blog-Beitrag "Was haben wir von der "VUCA"-Debatte gelernt?", Politik-Blog – Face To Face Solutions
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Foto: Melanie Alamir

Internationale Beziehungen nach der Corona-Pandemie. Zum Zusammenhang von Vertrauen, Glaubwürdigkeit und Ordnung

  Im Mittelpunkt der folgenden Betrachtungen stehen Zusammenhänge, die in der Diskussion über internationale Beziehungen kaum Beachtung finden, aber durch die Corona-Pandemie stärker ins Licht gerückt wurden. Sie kreisen um die Themen Vertrauen und Glaubwürdigkeit. 

  Vertrauen verstehen wir üblicherweise als Erwartung, dass eine andere Person sich auch bei Vorliegen der Möglichkeit einer Vorteilsnahme nicht so verhält, dass ich einen Schaden bzw. Nachteil durch ihr Verhalten erfahre. Bei Vertrauen geht es im Kern also um die Annahme von Integrität auf Basis geteilter Werte. Glaubwürdigkeit ist eng mit Vertrauen verknüpft und kann als Akzeptanz der Gültigkeit der Aussagen einer anderen Person bezeichnet werden. Hier geht es mit anderen Worten um die Annahme, dass die Aussage einer Person zutreffend ist und sie auch entsprechend handeln wird, obwohl ich den Wahrheitsgehalt ihrer Aussage nicht überprüfen kann. 

Systemische Schwachpunkte vieler demokratischer Staaten

  In der Innenpolitik sind Vertrauen und Glaubwürdigkeit ein zentraler Baustein repräsentativer Demokratie. Dieses ethische Demokratieverständnis scheint zwar gegenüber der Vorstellung von Demokratie als einer Arena immer mehr an Boden zu verlieren, in der lautstarkes Auftreten, populistische Narrative sowie der Kampf um Likes über Erfolg entscheiden. Allerdings sind wachsende Politikverdrossenheit, sinkende Wahlbeteiligung, Wut gegen „das Establishment“ und Empfänglichkeit für systemfeindliche radikale Positionen u.a. auch ein Indikator für die weitverbreitete Frustration über die wahrgenommene Diskrepanz zwischen liberaler Mainstream-Rhetorik und gelebter politischer Realität. Vertrauen und Glaubwürdigkeit als persönlichkeitsbezogene Voraussetzung für die Bewerbung um ein politisches Mandat und die damit verbundenen Machtprivilegien sind wie ein schlafendes Ideal. Kaum jemand glaubt voll und ganz daran. Aber wenn die Realität zu weit davon abweicht, erwacht das Ideal und kommt als unausgesprochener Referenzmaßstab zum Tragen; es kommt zu Vertrauens- und Glaubwürdigkeitsverlust.

  In der Erosion von Vertrauen und Glaubwürdigkeit in vielen demokratischen Staaten liegt auch die Gefahr einer Schwächung des ordnungspolitischen Modells der liberalen Demokratie per se. Diese Gefahr reicht weit in die Zeit vor der Corona-Pandemie und hat Ursachen, die näher zu beleuchten den Rahmen dieses Artikels sprengen würde. Stattdessen sollen hier nur plakativ einige wenige tagesaktuelle Beispiele zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Artikels Erwähnung finden: Ob Vetternwirtschaft im britischen Oberhaus, Veruntreuung großer Summen durch den ehemaligen spanischen König Juan Carlos oder die Steuerbetrugsaffäre um das Unternehmen Wirecard – kaum ein Tag vergeht ohne entsprechende Meldungen. Das kann langfristig nicht ohne Folgen für Vertrauen in das politische System bleiben.

  Während der Corona-Pandemie kamen Vertrauens- und Glaubwürdigkeitsverlust gleich in mehrfachen Schattierungen an die Oberfläche. Beim Nichtbefolgen von Präventionsregeln wie Abstandhalten oder das Tragen von Masken in vielen demokratischen Ländern mag es sich um einen Mangel an Vertrauen in die Einschätzung staatlicher Stellen zum Grad der Bedrohung durch das Virus handeln, zuweilen gepaart mit oder überlagert von einer Nichtakzeptanz staatlicher Eingriffe in die individuelle Freiheit und der Sorge um den Verlust von Bürgerrechten. Die Anfälligkeit vieler Menschen für verschwörungstheoretische Deutungen der Pandemie können neben anderen Faktoren auch als Anzeiger für einen Vertrauensverlust in die öffentliche Diktion und die schwächer werdende Bindekraft des systemischen Mainstreams gesehen werden. Auch die Wut vieler Demonstrant*innen auf die verhängten Maßnahmen gegen die Ausbreitung der Pandemie in deutschen Großstädten kann unter anderem mit Vertrauensverlust in den Staat erklärt werden. 

Poröse Stellen im internationalen System 

  Wie verhält es sich mit Vertrauen und Glaubwürdigkeit in der internationalen Politik? Mangels einer vergleichbaren Instanz wie dem Staat oder einer demokratisch legitimierten Regierung im Innern gehen die meisten davon aus, dass Vertrauen im oben verstandenen Sinne im internationalen System ein seltenes Phänomen ist. Wir kennen es hier allenfalls punktuell, etwa aus erfolgreichen Mediations- oder Versöhnungsprozessen oder aus persönlichen Beziehungen zwischen Politikern. Ansonsten haben wir es hier in der Regel mit einer Art von Vertrauen zu tun, die als erfahrungsbasierte (frühere Vereinbarungen wurden eingehalten, also ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie auch künftig eingehalten werden) und/oder durch Androhung von Sanktionen erzwungene Erwartung der Verhaltensverlässlichkeit bezeichnet werden kann. Diese Spielart von Vertrauen umfasst ein breiteres Spektrum an Varianten, an dessen einem Ende die erwartete Verhaltensverlässlichkeit aufgrund gemeinsamer Interessen und Werte hoch ist, wie etwa zwischen Mitgliedern der NATO oder EU, während sie am anderen Ende niedrig ist, etwa zwischen Konfliktparteien in einem prekären Waffenstillstand wie in der Ostukraine.

  Erwartete Verhaltensverlässlichkeit aufgrund gemeinsamer Interessen und Werte ist in der internationalen Politik vergleichsweise hoch, aber eben nicht garantiert. Umso prekärer ist aber Verhaltensverlässlichkeit in internationalen Organisationen, Regimen oder Abkommen, die auf freiwilliger Vereinbarung, aber nicht unbedingt gemeinsamen Werten und Interessen basieren. Hier überwiegt das Kalkül, dass die Vorteile die Risiken überwiegen beziehungsweise dass die Drohung mit Sanktionen bei Regelbruch glaubhaft ist. Schon immer war die Schwachstelle multilateraler Organisationen und Abkommen, dass Regelbrüche faktisch aber nur dann geahndet werden, wenn ein mächtiger Staat oder eine Gruppe von Staaten entsprechende Sanktionen mittels ökonomischer und/oder militärischer Mittel durchzusetzen bereit sind. Ein Beispiel hierfür bildet der UN-Sicherheitsrat, der oft durch Interessengegensätze seiner Ständigen Mitglieder handlungsunfähig ist, da diese ihr Vetorecht zur Verfolgung ihrer Partikularinteressen nutzen.

  Dass internationale Institutionen, Regelwerke und Vereinbarungen dennoch vielfach über längere Zeit recht gut funktionieren, liegt neben den materiellen und politischen Vorteilen beziehungsweise der Sanktionsdrohung bei Regelbruch noch an einem weiteren Faktor. Den Hauptträgern der Institutionen, Regelwerke und Abkommen der regelbasierten liberalen internationalen Ordnung, den USA und den EU-Staaten, wird unterstellt, dass sie sich an die Regeln halten, ihrer tragenden Rolle durch Beiträge, Engagement und politisches Gewicht gerecht werden und in ihrem Innern und untereinander auch danach handeln. Diese Unterstellung greift auch, wenn die USA oder EU-Staaten in Einzelfällen davon abweichen. Sie kommt einem Vertrauensvorschuss gleich, dürfte schwer nachzuweisen sein, sollte aber in ihrer Bedeutung nicht unterschätzt werden. Auch wenn wohl alle wissen und annehmen, dass sich kein Staat voll und ganz an international vereinbarte Regeln hält, so haben diese Regeln doch eine Bindekraft über Vorteilserwägungen und die Mechanismen ihrer Überwachung oder Erzwingung hinaus, solange es glaubwürdige Träger als Garanten gibt, die für die Werte hinter den Regeln stehen. Was aber passiert, wenn die Glaubwürdigkeit der Garanten bröckelt? 

  Im Zuge der Corona-Pandemie wurden gerade dort, wo wir aufgrund gemeinsamer Interessen und Werte an große Verhaltensverlässlichkeit gewohnt waren, hässliche Risse erkennbar. Die Wahrnehmung der Verlässlichkeit der USA unter der Trump-Administration als Partner und verantwortungsvoller internationaler Akteur hat nicht erst seit Anfang 2020 gelitten. Der kurzfristige US-Austritt aus der WHO, die plump anmutenden Versuche, exklusive Vorteile für die USA bei der Entwicklung eines Impfstoffes zu erkaufen oder die überraschende Ankündigung eines deutlichen Abbaus der in Deutschland stationierten US-Truppen als Strafmaßnahme haben die (ohnehin nicht immer feinen) internationalen Gepflogenheiten um einige schrille Noten erweitert. Dies sind nur wenige Beispiele, die wachsende Zweifel an der Verhaltensverlässlichkeit der USA genährt haben – wie immer die bevorstehenden Wahlen ausgehen und die tatsächliche Relevanz und Auswirkung der einzelnen Schritte auch bewertet werden mag. 

  Auch die EU hat in dieser Hinsicht nicht geglänzt. Die unabgestimmten Grenzschließungen, die späte Krisenreaktion auf EU-Ebene und die schwierigen Verhandlungen über das EU-Corona-Hilfspaket können als das übliche Hin und Her einer semi-supranationalen Organisation abgetan werden, die letzten Endes doch nur so weit gemeinsam handlungsfähig ist, wie es die Mitgliedstaaten wollen. Im Hinblick auf Vertrauen und Glaubwürdigkeit ist der Befund allerdings besonders ernüchternd, weil es sich - anders als bei anderen Streitthemen - bei der Pandemie um eine unmittelbar erkennbare existenzielle Bedrohung handelt, die alle EU-Länder gleichermaßen betrifft. Als Wirtschaftsunion ist die EU vorerst mit einem blauen Auge davongekommen; als gegenseitige Schutz- und Solidargemeinschaft dagegen hat sie an Glaubwürdigkeit eingebüßt.

Spätestens seit der Pandemie ist zudem deutlich geworden, dass China sich nicht einfach in internationale Institutionen, Regeln und Normen einbinden lässt, die vom politischen Westen dominiert sind. Besonders augenfälliges Beispiel hierfür sind die neuen Sicherheitsgesetze in Hongkong.

  Der Bedarf nach multilateralem Handeln in der Sicherheits- und Entwicklungspolitik, in der Klima- und Umweltpolitik oder in der Wirtschafts-, Sozial- und Gesundheitspolitik ist heute so hoch wie nie zuvor. Dagegen sind die Bedingungen dafür und die Bereitschaft dazu seit den „euphorischen Jahren“ des Multilateralismus Anfang der 1990er-Jahre an einem Tiefpunkt angelangt. Die Bedingungen für multilaterales Handeln verändern sich seit etlichen Jahren. Sie reichen von globalen Machtverschiebungen über veränderte Risiko- und Bedrohungslagen bis hin zu Auswirkungen innenpolitischer Dynamiken auf das außenpolitische Verhalten von Staaten. Darauf soll an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden; der Fokus gilt hier der Bereitschaft zu multilateralem Handeln. 

Die Bereitschaft, multilateral zu handeln, verändert sich zum einen in Wechselwirkung mit den sich verändernden Bedingungen, da Staaten ihre Kalküle anpassen müssen. Zum anderen wird sie aber auch beeinflusst von normativen Annahmen und Wahrnehmungen. Und hier kommen Vertrauen und Glaubwürdigkeit ins Spiel. 

Während die USA keinerlei Ambition zur Führung einer international abgestimmten Pandemiebekämpfung erkennen ließen, versuchte China Überlegenheit u.a. durch medizinische Materiallieferungen sogar an europäische Staaten zu demonstrieren. In einigen Ländern könnten manche anfangen zu kalkulieren, welche Vorteile für sie noch in der Gefolgschaft der USA und des US-dominierten Systems internationaler Institutionen bestehen. Auch könnten sich manche die Frage stellen, warum sich ihre Länder an internationale Vereinbarungen halten oder darauf vertrauen sollen, wenn diese von anderen mächtigen Staaten nur nach Belieben befolgt oder einseitig aufgekündigt werden. 

In Partnerländern der Entwicklungszusammenarbeit mögen sich vor dem Hintergrund von zunehmenden Fällen der Untergrabung demokratischer Prinzipien und rechtstaatlicher Grundsätze in westlichen Demokratien, auch in Geberländern, manche fragen, mit welcher Berechtigung von ihnen gute Regierungsführung, Transparenz und politische Rechenschaftspflicht, Meinungsfreiheit und Minderheitenrechte und so weiter eingefordert wird. Sie könnten nicht nur angesichts sinkenden internationalen Geberengagements, sondern auch generell mit Blick auf das Ausbleiben des neoliberalen Versprechens einer Wohlstandsmehrung für alle zu Recht infrage stellen, inwieweit das ihnen auferlegte Wachstumsmodell für sie zukunftstauglich ist. In vielen Teilen der Welt gibt es außerdem eine wachsende Zahl von Menschen, die einem anderen Verständnis des Verhältnisses zwischen Staat und Gesellschaft folgen, für die Chancengleichheit und Pluralismus nicht die Eckpfeiler guten Zusammenlebens sind.

Bisher scheinen die aufgezeigten Optionen für uns eher Schreckgespenste. Die Glaubwürdigkeit und Strahlkraft liberaler Demokratien, vielleicht sogar ihres ordnungspolitischen Modells an sich, sowie die Bindekraft der darauf beruhenden liberalen internationalen Normen und Regeln haben abgenommen, das ist evident. Neben strukturellen Bedingungen und politischen Dynamiken können Vertrauens- und Glaubwürdigkeitsverlust multilaterales Handeln unter der Ägide des politischen Westens nicht nur erschweren, sondern vor allem die Bereitschaft dazu weiter ausdünnen. Wenn der Quasi-Vertrauensvorschuss aufgebraucht ist, wird es schwer, ihn wieder zu reparieren. Das ist der Zusammenhang zwischen Vertrauen, Glaubwürdigkeit und internationaler Ordnung, der durch die Corona-Pandemie klarer zu sehen ist. 

Veränderte Denkparameter und neue Regeln


  Wenn es zutrifft, dass die Bindekraft von vereinbarten Regeln bei sinkender Glaubwürdigkeit der „normativen Garanten“ nachlässt, wird dies infolge der Corona-Pandemie noch aus einem weiteren Grund verstärkt. Die Pandemie hat vielfach Wahrnehmungen und Grundannahmen verändert. Auf individueller Ebene hat sich der durch Angst und Unsicherheit getriebene Blick sehr vieler Menschen auf die Dinge im Leben verengt, die existenziell wichtig sind: Gesundheit, Familie und Freunde, Einkommen und das eigene Heim. Innergesellschaftlich sind herkömmliche Denkmuster insofern durchbrochen worden, als vieles, was zuvor nie möglich erschien, in kürzester Zeit Realität geworden ist. Dies hat für einige den Blick auf die Machbarkeit grundlegender Alternativen erVuch vter. int ie MachbarkeiterschwerenAKlkülen ogenen Faktorenöffnet. Für andere hat es den Impetus bestätigt, am Bestehenden festzuhalten und so schnell wie möglich zum Status quo ante zurückzukehren. International trifft die Formel „anything goes“ (nichts ist unmöglich) unter dem negativen Vorzeichen von Unsicherheit und Misstrauen vielleicht am ehesten die veränderten Wahrnehmungsparameter. Nichts scheint mehr gewiss, wir sind in Habachtstellung und auf alles gefasst. Auch wenn sich dies schon lange abzeichnet und in der internationalen Welt nach der Pandemie auch vieles Altbekannte weiter bestehen wird, so scheint doch ein neuer Zeitgeist eingeläutet, den wir noch nicht beim Namen nennen können. 

  Neben veränderten Denkmustern hat die Corona-Pandemie zudem eine unüberschaubare Vielzahl neuer Regeln mit sich gebracht, die innergesellschaftliche und internationale Interaktion massiv beschränken. Dabei hat sich jedes Land seine eigenen Regeln gegeben, während zeitgleich multilaterale Institutionen unterlaufen wurden oder geschwächt waren. Außerdem haben einige Länder angefangen, einen lange bestehenden Trend fortzusetzen und ihre eigenen Regeln zu befolgen, nun aber ohne Ankündigung und Rechtfertigungsversuche, sondern als fait accompli, wenn wir nochmal an das neue Sicherheitsgesetz für Hongkong denken, an die frühzeitige Freigabe eines Impfstoffs gegen das Coronavirus in Russland oder an die türkische Außenpolitik in Syrien und im Mittelmeer, um nur einige zu nennen. Wenn wir daher von der regelbasierten internationalen Ordnung sprechen, müssen wir uns zunehmend fragen, wessen Regeln wir eigentlich meinen und wer diese überwacht und sanktioniert. 

  Keine dieser Entwicklungen ist neu oder durch die Pandemie verursacht. Viele Theoretiker und Analysten der internationalen Beziehungen kommen über Argumentationswege, die internationale Machtdynamiken in den Mittelpunkt stellen, zu ganz ähnlichen Schlüssen mit Blick auf die Erosion der liberalen Ordnung. Hier wurde versucht zu zeigen, dass Vertrauen und Glaubwürdigkeit, die als Faktoren zur Erklärung internationaler Politik gewöhnlich vernachlässigt werden, eine weitere relevante Perspektive aufzeigen. Man kann darüber streiten, ob die Corona-Pandemie diese Tendenzen kausal verstärkt, katalytisch beschleunigt oder nur deutlicher sichtbar gemacht hat. Dies lässt sich noch nicht beantworten und ist im hiesigen Kontext nachrangig. 

  Die jetzige Zeit, die wohl in unserer Wahrnehmung künftig untrennbar mit der Corona-Pandemie verknüpft sein wird, hat für das internationale System eine normative Prägekraft. Nicht indem bestehende Institutionen und Regelwerke explizit zu Grabe getragen oder neue Regelwerke verabschiedet wurden. Sondern indem für etliche Wochen und Monate die politische Aufmerksamkeit von Krisenreaktionsmaßnahmen im Innern absorbiert war, während das internationale Geschehen sich wie unter einer Dunstglocke weiterbewegte. So hat sich in der Zeit, da große Teile der Welt mit sich selbst beschäftigt waren, in den internationalen Beziehungen unausgesprochen eine neue Beliebigkeit hinsichtlich Regeltreue und Verhaltensverlässlichkeit als neuer Normalzustand eingestellt. Die normative Kraft des Faktischen macht damit „anything goes“ gewissermaßen zur neuen Regel.

  Wie in einem Brennglas hat die Pandemie poröse Stellen im internationalen System sichtbar werden lassen, die durch das Prisma von Vertrauens- und Glaubwürdigkeitsverlust gesehen weitere Kreise ziehen als die seit Längerem beklagte Abwendung der USA vom Multilateralismus oder die Schwächung der liberalen regelbasierten Weltordnung. Die Welt bleibt weiterhin interdependent, weil ökonomische, soziale und kulturelle Verflechtungen nicht einfach umkehrbar sind, auch wenn die Globalisierung einen Dämpfer erlitten hat. Daher werden auch multilaterale Institutionen und Regelwerke weiterbestehen, doch werden sie wahrscheinlich in ihrer Reichweite begrenzter, in ihrem Geltungsanspruch weniger global und/oder in ihrer Durchsetzungsmacht löchriger sein. Auch ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass mehr konkurrierende Zusammenschlüsse um dieselben Themen entstehen werden, die auch weniger institutionalisiert sein können und sich um mächtige Staaten herumgruppieren. Überdies ist es gut möglich, dass die Zahl von Staaten wächst, die sich opportunistisch und wankelmütig mal hier, mal dort engagieren ohne wirklich Verpflichtungen einzugehen. Schließlich steigen in so einem Gefüge die Chancen für Gruppierungen und Akteure, die sich an gar keine Regeln mehr halten.

  Ist das das Ende der liberalen Weltordnung? Genau genommen ist zweifelhaft, ob es diese jemals gab. Als Idee aber scheinen nicht nur die Tage der liberalen Weltordnung gezählt, sondern auf lange Sicht möglicherweise auch das Ende jeglicher internationalen Ordnung größerer Reichweite. Wenn wir in diesem Kontext Ordnung verstehen als ein gemeinsames Verständnis relevanter Akteure über akzeptierte Regeln der Interaktion und darüber, wie Verstöße gegen diese Regeln geahndet werden, ergänzt durch den Willen und die Fähigkeit, Regelverstöße zu sanktionieren, könnten wir künftig mit einem undichten Flickenteppich verschiedener Ordnungen unter verschiedenen politischen Vorzeichen zu rechnen haben. Eine Welt, in der mit schwindendem Vertrauen und Glaubwürdigkeit auch der Wille zu internationaler Führung und Verantwortung sinkt. Für global abgestimmte Antworten auf Herausforderungen wie Klimaerwärmung, internationale Finanzkrisen, atomare Bedrohung, Wasserverknappung, Terrorismus, Cyberkriminalität, Pandemien und viele weitere heißt das nichts Gutes. Für Länder, die wie Deutschland weiterhin international Verantwortung übernehmen wollen, könnte das künftig noch schwieriger werden.




Dieser Beitrag erschien zuerst als Gastkommentar beim Zentrum für ethnische Bildung in den Streitkräften (Zebis) unter: https://www.zebis.eu/veroeffentlichungen/positionen/internationale-beziehungen-nach-der-corona-pandemie/

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